Gesamtübersicht mit Lampenfassung oben (schwarzer Rand und weisse Birnenfassung mit elektrischen Kabeln; abgebrochenes Gewindestück des Polycarbonat-Lampenhalses; Polycarbonat Lampenkugelkörper
Lampenfassung mit elektrischen Kabeln (farbig Weich PVC ummantelt)
Oben: in schwarz der Gusseisenring als Träger der PC-Kugel; darunter montiert die Keramik-Fassung zum Einschrauben der Glühbirne, dazwischen ein Trafo.
Was soll herausgefunden / untersucht werden?
In einer bekannten Stuttgarter Fußgängerzone zerstörten böse Buben im Bauabschnitt 1 die neu installierten Glaskugeln und gefährdeten sich und Passanten. Nach sechs Monaten folgte Bauabschnitt 2 und man entschloss sich von Seiten der Stadt die neu zu errichtenden Lampen mit bruchsicheren Kunststoffkugeln zu machen und gleichzeitig in der Zone 1 die Glaskugeln auch zu ersetzen. Als nach weiteren 2 Monaten im Sommer die Kunststoffkugeln in Zone 2 eine nach der anderen, diesmal ohne Fremdeinwirkung, herunterfielen, war das Staunen groß. Die Lampenkugeln in Zone 1 blieben unversehrt hängen. Wie kann das sein? Was war ursächlich passiert? Wer ist für den Schaden verantwortlich?
Warum / wofür könnte das wichtig sein?
Versicherungs-Schadensfall muss geklärt werden; Gefährdung von Personen auf öffentlichen Straßen;
Warum ist das Experiment für die Teilnehmer interessant?
Aus case studies (in der Realität passiert) lernen Schüler Zusammenhänge zwischen Chemie, Physik, Werkstoffkunde, methodisches Vorgehen beim Lösen von Problemen, Vermeidungsstrategien, Anwendungen (Versagen und Lösungen zum Verbessern)
Was sollen die Kinder / Jugendlichen mit diesem Experiment lernen?
Molekülstrukturen in Kunststoffen reagieren völlig verschieden im Vergleich mit atomaren Metallstrukturen. Im gedehnten Zustand (Zugbelastung) können kurzkettige Moleküle mit entsprechenden chemischen Wechselwirkungen (basierend auf Dipolmomenten also unterschiedlicher Polarität) die langkettigen Makromoleküle brechen. Fehlstellen in der Struktur führen dann makroskopisch zum Riss und zum Bruch des Bauteils. Organische molekulare Stoffe (z. B. Kunststoffe/Polymere) kann man in ihren Grundeigenschaften nur verstehen, wenn man ihre Chemie kennt, Wechselwirkungen berücksichtigt und Physik von molekularen Überstrukturen einbezieht.
Gibt es einen gesellschaftlichen Aspekt in der Fragestellung?
In unseren Medien überwiegt ein negatives Image von Kunststoffen: Emissionen, Vermüllung von Meere und Land, nur kurzlebig weil leicht brechbar, unbeständig, kritische Chemie z.B. bei Schäumen usw.
PC-Lampenkugeln, die in Fußgängerzonen gefährlich zu Boden fallen passen da ins Bild. In dieser Situation hilft die Kenntnis der kunststoffkundlichen Zusammenhänge um Produkte aus Kunststoffen zu entwickeln und herzustellen, die nicht versagen. Jugendliche sollten das wissen, denn Kunststoffe sind Lebensretter, Komfort-Werkstoffe, Schutzmaterialien, Energiesparer usw.
Einige Beispiele, die wir als selbstverständlich hinnehmen mögen, verdeutlichen dies:
Sicherheitsgurte, airbags, Reifen, Lebensmittelverpackungen erhöhen die Haltbarkeit und verbessern die Hygiene, Wasser- und Gasrohre, Medizinanwendungen (Katheder, künstliche Organe, Spritzen, Wundverbände) Kleidung, Schuhe, Sportartikel, Verhütungsmittel, Rettungsboote usw.
Nicht die Kunststoffe sind bei Defekten oder Umweltsünden schlecht, sondern wir Verbraucher werfen sie ins Meer und in die Flüsse oder Ingenieure konstruieren Bauteile (z.B. Spielzeuge) falsch und sie brechen.
Werden spezielle Kompetenzen mit dem Experiment / Angebot gefördert?
Einblicke in das Berufsleben; Bezug zwischen Theorie und Praxis; Problemlösungsverhalten wird geschult bei hoher Motivation infolge Praxisrelevanz.
Was wird gemacht?
Problemaufnahme
Eine Dienstreise zum Ort des Geschehens! Ohne Ortsbesichtigung kann man den Fall nicht lösen. Auch nicht ohne Messungen. Als erstes werden Fotos gemacht, das nennt man Dokumentation, siehe Bilder 1 und 2. Die Experten betrachten sich die heruntergefallenen Polycarbonat-Kugeln (PC-Kugeln) genau und stellen fest:
- Die Kugeln hängen eingeschraubt in einer Metallfassung von oben nach unten, siehe Bilder 1 und 2
- Weißer Belag im unteren Lampenkugelteil, Bild 3
- Ölig-schmieriger Belag im oberen Kugelteil, Bild 3
- Defekte Lampenkugeln sind am Übergang Gewindehals zu Kugelkörper, siehe Bild 4, kreisrund gebrochen; optisch erscheint dies als die dünnste Stelle der Kugelwanddicke. Man ist geneigt dies als Schwachstelle zu identifizieren.
- Die heruntergefallenen PC-Lampenkugeln sind durch den Aufprall nicht weiter zerbrochen; die Wahl des Kunststoffes hält somit den freien Fall aus ca. 4 m Höhe aus.
- Temperaturmessungen ergeben: in der Nähe der Glühbirne (damals gab es noch keine LED-Lampen) und zwischen den isolierten elektrischen Kabeln, siehe Bild 3, die nach oben weggeführt wurden, waren es 115 °C, im Bereich der Außenfassung 86 °C, im oberen Bereich der Lampenkugel 45 °C.
Die nächsten Schritte erfolgen dann im Chemielabor in der Schule.
Was ist passiert? Woher kommen die verschiedenen Niederschläge im Kugelinneren? Welche Auswirkungen haben sie? Ist die Lampenkugel im Gewindebereich mechanisch zu schwach?
Um die weiße Schicht unten und die schmierige Schicht oben zu analysieren, wird der Chemielehrer die Methode der Infrarot-Spektroskopie erklären. Mit ihr kann man, wie bei einem Fingerabdruck bei Menschen, den chemischen Fingerabdruck von organischen Substanzen bestimmen und damit diese erkennen. Der weiße Belag kann als Kalkablagerung nach Wassereintritt infolge Undichtheit an der Fassung oben identifiziert werden. Bild 5 zeigt das Ergebnis einer FT-IR-Analyse (Fourier-Transformations-Infra-Rot-Spektroskopie). Über einen Suchlauf durch 1000e im Rechner hinterlegten Spektren erkennt er das aufgenommene Spektrum zu Dioctylphthalat (DOP). DOP ist ein äußerer Weichmacher für PVC. Die Ummantelungen von elektrischen Kabeln sind aus Weich-PVC. Der ölige Niederschlag in der oberen Kugelhälfte stammt also von den Kabeln und ist dort infolge der hohen Temperaturen in der Lampenhalterung ausgedampft und schlug sich an der kalten Innenoberfläche der PC-Kugel nieder.
Warum brechen die PC-Lampenkugeln?
Die nächste Frage "Welche Auswirkungen hat das niedermolekulare ölig wirkende DOP auf Polycarbonat im Gewindehals-Bereich?" und deren Antwort führt uns nun in den Aufbau der Kunststoffe.
Polymere (griechisch: poly viel, meros das Teil, also vielteilig) sind sehr langkettig makromolekular. Kunststoffe bestehen somit aus Makromolekülen mit hoher Molmasse. Wirken nun andere Moleküle mit reaktiven Seitengruppen auf z. B. Polykarbonat-Moleküle ein, kommt es zu Wechselwirkungen. Unter äußeren mechanischen Spannungen, bevorzugt Zugspannungen, kann es zu Brüchen oder Rissen innerhalb einer langen Kette kommen. Dies kann bei passenden Paaren (Kunststoff und Lösemittel, wie beispielsweise PC und DOP) zum Riss des Polymers kommen. Man nennt es Spannungsrissbildung. Erhöhte Temperaturen verstärken den Effekt.
Die Situation um die Lampenkugel im Bereich der Fassung, in der mit ihrem Eigengewicht, ca. 6 kg die PC-Kugel hängt, ist typisch für Spannungsrissbildung.
Zugspannungen im Querschnitt des PC-Schraubgewindes, erhöhte Temperaturen und als spannungsrissauslösendes Medium für PC das niedermolekulare DOP (Struktur des DOP siehe Bild 6) führen schließlich zum Bruch und Herunterfallen der Lampenkugeln. Die geringere Wanddicke unterhalb des Gewindes, Bild 4, ist keine Schwachstelle, sondern konstruktiv richtig. Damit wird die Beweglichkeit (Deformationsfähigkeit) der Kugel in der Aufhängung größer. Die Verjüngung wirkt als flexible Membran.
Bleibt noch zu klären, warum die PC-Kugeln im neu gebauten Teil 2 der Fußgängerzone nicht herunterfielen, nachdem man die Glaskugeln durch sie ersetzte? Erklärung: Das auspermeierte DOP klebte an der Glasinnenoberfläche und wurde mit dem Glas entsorgt. Das für PC spannungsrissauslösende Medium war entfernt. Bei Glas wirkt es nicht.
Mit dieser Ursache lassen sich auch Lösungsvorschläge für die Problembehebung nennen:
- Andere Kabelisolierungen verwenden z. B. Silikongummi wie in Flugzeugen, jedoch teuer
- Temperatur senken, z. B. durch LED Leuchten; (gab es damals noch nicht) Für bessere Durchlüftung der Lampenfassung sorgen, ohne dass Regenwasser eindringen kann;
- Anderen Kugel-Kunststoff wählen, der gegen DOP beständig ist
Ist das Experiment interdisziplinär angelegt?
Das Experiment zeigt einerseits das Zusammenspiel von Chemie und Physik in organischen Werkstoffen. Anderseits wird die ingenieurmäßige Bedeutung von kunststoffkundlichen Zusammenhängen (Werkstoffkunde) begreifbar. Gesellschaftliche Auswirkungen sind oben beschrieben.
Ist das ein aktuelles Forschungsthema? Wenn ja, warum?
Aus der obigen Schadensanalyse lässt sich ein sehr anschauliches Experiment ableiten.
Bild 7 zeigt eine verstellbare Zwinge in die zwischen die Spannbacken ein rechteckiger ca. 4 mm dicker transparenter Polystyrol-Stab eingeklemmt ist. Infolge der Verschraubung biegt sich der Stab ca. 10mm in der Mitte durch. Mit einer Pipette wird jetzt ein Tropfen Azeton auf den höchsten Punkt der Wölbung aufgebracht.
Bei entsprechender Durchbiegung sieht man das Entstehen und die Vergrößerung (Risswanderung) von Rissen bis sich ein großer Riss ausbildet und der Stab mit einem Knall bricht. Wiederholt man nun den Versuch mit einem neuen PS-Stab und tropft das Azeton nun bei umgedrehter Zwinge in die Talsohle (Azeton so dosieren, dass es nicht an den Schnittkanten auf die Rückseite läuft) dann beobachtet man das Verdunsten des Lösemittels ohne jegliche Wirkung.
Ist es ein Thema der eigenen Trägerorganisation?
Ja
INFOBOX
Schülerlabor:
Kontakt-Person(en):
Peter Eyerer, Dörthe Krause
Alter und Schulart(en) der Zielgruppe:
Ab Klasse 10 Gymnasium
Fachgebiet(e):
Chemie, Naturwissenschaften, Technik
Zeitaufwand:
45 Minuten oder mit eigenen Versuchen auch 90 min. sehr gut möglich
Schlagwörter:
Kunststoffkunde; Kunststoffchemie; Schadensanalyse; Spannungsrissbildung; Mechanische Eigenschaften von Kunststoffen
Methode(n):
- Geführt forschendes Experimentieren. Schüler bekommen für die Lösung der Problemstellung genügend Informationsmaterial zur Verfügung gestellt.
- Forschendes Experimentieren. Schüler arbeiten an vorgegebenen Fragestellungen mit eigenen Lösungsvorschlägen.
- Einblicke in die Berufswelt
Kommentar: